Wer sind Sie?
„Halt! – Wer sind Sie?“ – „Wer sind Sie denn?“ – „Wer sind Sie denn?“
„Warum sind Sie hier?“
„Woher kommen Sie?“
„Wo wollen Sie hin?“
„Wofür stehen Sie?“
„Woran glauben Sie?“
„Was ist Ihnen wichtig?“
„Nun antworten Sie schon!“
Wissen Sie wirklich, wer Sie sind?
Wie fühlen Sie sich bei der Vorstellung, so verhört zu werden? Ziemlich unangenehm, oder?
Aber: Könnten Sie diese Fragen denn beantworten? Ganz ehrlich? Sie müssen die Antworten ja niemand anderem verraten. Wichtig ist nur, dass Sie selbst sie kennen.
Diese Fragen sind nämlich unheimlich wichtig für Sie. Denn nur, wenn Sie sich selbst wirklich gut kennen, können Sie Ihr Leben so führen, wie es zu Ihnen passt – wie es für Sie richtig ist.
Die Beantwortung dieser Fragen kann Ihnen niemand abnehmen. Aber ich werde Ihnen in dieser Folge von „Frisch philosophiert“ erklären, warum es so wichtig ist, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Und ich werde Ihnen ein paar Impulse geben, wie Sie für sich Antworten auf diese Fragen finden.
Γνῶθι σεαυτόν – Erkenne dich selbst!
Wer in der Antike zum Orakel von Delphi kam, um dort durch Vermittlung der Pythia den Gott Apollon über die Zukunft oder nach der richtigen Entscheidung in einer Angelegenheit zu befragen, der kam in der Vorhalle des Apollontempels an einer Säule vorbei. An dieser war die Aufforderung „Γνῶθι σεαυτόν“ ‚Erkenne dich selbst!‘ angebracht.
Schon in der Position dieses Spruches innerhalb der Orakelstätte, vor dem Tempelinneren, steckt eine tiefe Lebensweisheit: Denn bevor wir uns Gedanken über die Zukunft machen und bevor wir uns überlegen, wie wir uns in einer schwierigen Angelegenheit entscheiden – ob wir das nun für uns alleine tun, andere befragen oder sogar Seher und Orakel befragen – müssen wir zuallererst uns selbst erkennen.
Salopp gesagt: Wenn ich nicht weiß, wo ich bin – dazu gehört eben auch, wer ich bin – kann ich meinen Weg nicht finden. – Nicht einmal, wenn ich ein klares Ziel habe.
Nun könnte man einwenden, dass das eben ein religiöses, mythisches Motto sei, weil es ja in einer Kultstätte angebracht war. (In eine ähnliche Richtung geht ja auch die Mahnung Jesu, dass man den Balken im eigenen Auge erkennen solle, bevor man den Splitter im Auge eines anderen bemerkt. (Bergpredigt (Mt 7,3–5 EU); Feldrede (Lk 6,41–42 EU);außerhalb des Neuen Testaments im Thomasevangelium (Logion 26) )
Selbsterkenntnis und Philosophie bei Sokrates und Heraklit
Tatsächlich aber steht die Aufforderung „Erkenne Dich selbst!“ zugleich am Beginn der Beschäftigung unserer westlichen Philosophie mit den Menschen, ihrem Handeln und ihrem Zusammenleben:
Sokrates, von dem später Cicero schrieb, er habe als erster die Philosophie vom Himmel herab auf die Erde zu den Menschen gebracht (vgl. Cic. Tusc. 5, 10), hat diese Aufforderung zur Selbsterkenntnis offenbar als Voraussetzung für Entscheidungen im eigenen Leben und den Umgang mit anderen Menschen angesehen.
So hat er – nach dem Bericht seines Schülers Xenophon (Memorabilien 3, 7, 9) – zu Charmides, einem fähigen Mann, der zögerte, öffentlich vor der Volksversammlung zu sprechen und politische Ämter zu übernehmen, gesagt:
„Verkenne Dich nicht selbst und mache nicht den Fehler, den die meisten begehen. Denn die meisten sind darauf aus, sich um fremde Angelegenheiten zu kümmern, und vergessen darüber, sich selbst zu prüfen. Versäume dies also keinesfalls, sondern bemühe dich, mehr auf dich selbst zu achten.“ (Übersetzung: Peter Jaerisch)
Xenophon, Memorabilien 3, 7, 91
Und schon zuvor, bei dem Vorsokratiker Heraklit, findet sich der Hinweis, dass es allen Menschen möglich sei, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.2
Das klingt doch sehr ermutigend.
Es lohnt sich!
Wenn Sie wissen, wer Sie sind und wofür Sie stehen, was Ihnen wichtig ist, was Sie wirklich wollen und welche Prinzipien Sie vertreten, dann haben Sie einen inneren Kompass und eine Karte für Ihren Lebensweg.
Sie können dann Ziele finden, die für Sie angemessen sind, Ziele, die Sie wirklich erreichen wollen, Ziele, die zu ihren Werten und Prinzipien und zu Ihrer Persönlichkeit passen.
Wenn sich Ihnen Hindernisse in den Weg stellen, können Sie begründet entscheiden, ob es für Sie richtig ist, ein Ziel weiter zu verfolgen. Dann können Sie neue Wege suchen, die zu Ihnen passen. Oder Sie suchen ein neues Ziel, das zu Ihnen passt und besser errichbar ist.
Wenn Sie wissen, wofür Sie stehen, können Sie klar Haltung beziehen, wenn Sie mit etwas nicht einverstanden sind. „Bis hierhin – und nicht weiter!“ „So etwas tue ich nicht!“ Sie können dann auch für Ihre Prinzipien eintreten und diese auch gegen Widerstände vertreten. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“
Wenn Sie sich selbst erkannt haben, dann haben Sie die wichtigste Voraussetzung geschaffen, um Ihr Leben selbst zu führen. Das heißt nicht, dass Sie alles erreichen werden, was Sie sich wünschen. Das heißt auch nicht, dass Sie nicht mit Leid, Niederlagen und Unglück konfrontiert werden. Sie können dann aber mit solchen Situationen so umgehen, wie es zu Ihnen selbst passt.
Warum erkennen sich dann so wenige selbst?
Wenn wir Menschen nun alle dazu in der Lage sind, uns selbst zu erkennen, und wenn diese Selbsterkenntnis so grundlegend für all unsere Entscheidungen und unser Handeln ist, warum kennen sich dann so wenige Menschen wirklich selbst?
Was meinen Sie, woran das liegen könnte?
Ignoranz?
Gleichgültigkeit?
Mangel an Zeit?
Fehlendes Bewusstsein der Bedeutung einer solchen Selbsterkenntnis?
Oder täusche ich mich vielleicht? Kennen sich die Leute schon alle selbst?
Los geht’s!
Doch lassen wir die anderen außen vor! Fangen wir am besten uns selbst an!
Wie sieht es bei Ihnen aus? Haben Sie sich schon selbst erkannt? Wirklich? Kennen Sie sich durch und durch?
Machen wir doch einfach die Probe aufs Exempel!
Fragen Sie sich selbst!
Nehmen Sie sich etwas Zeit. Nehmen Sie sich doch auch Zettel und Stift, um Ihre Gedanken festzuhalten.
Und nun beantworten Sie für sich ganz persönlich folgende Fragen:
„Wer sind Sie?“
„Warum sind Sie hier?“
„Woher kommen Sie? Was ist Ihre Geschichte?“
„Wo wollen Sie hin? Was sind Ihre Ziele? Und warum wollen Sie diese erreichen?“
„Wofür stehen Sie? Was sind Ihre Werte und Prinzipien?“
„Woran glauben Sie? Was sind Ihre Überzeugungen?“
„Was ist Ihnen wirklich wichtig? – Ihnen ganz persönlich!“
Wie geht es nun weiter?
Hand aufs Herz! Konnten Sie sich auf jede dieser Fragen eine erschöpfende Antwort geben?
a) Ich kenne mich selbst schon gut
Ja? Dann gratuliere ich Ihnen von Herzen. Sie gehören zu den wenigen Menschen, die sich wirklich selbst kennen. Für Sie besteht der nächste Schritt darin, sich zu überlegen: „Welche Konsequenzen haben die Antworten auf diese Fragen darauf, wie ich mein Leben führe? Steht meine Lebensführung – beruflich und privat – im Einklang mit mir und meinen Werten? Was kann ich ändern, um mein Leben in Einklang mit mir selbst zu bringen?“ … Diese Fragen sind der Anfang einer spannenden Entwicklung. Das verspreche ich Ihnen.
b) Ich habe gemerkt, dass ich mich noch nicht so gut kenne
Und wenn Sie die Fragen von vorhin noch nicht oder nicht ausreichend beantworten konnten? Dann hören Sie sich diese Fragen doch noch einmal an. Schreiben Sie sie auf ein Blatt. Hängen Sie dieses Blatt an Ihren Badezimmerspiegel oder über Ihren Schreibtisch! Irgendwohin, wo Sie es immer wieder sehen. Oder schreiben Sie sie auf einen kleinen Zettel und legen diesen in Ihr Portemonnaie, so dass sie ihn immer bei sich haben und in freien Minuten herausziehen können.
Regelmäßige Selbsterkenntnis
Denken Sie einmal in der Woche über eine oder mehrere dieser Fragen nach! Notieren Sie sich Ihre Antworten. Vergleichen Sie die Antworten mit Ihren früheren Antworten. Kommen Sie mit Freunden oder dem Partner über diese Fragen ins Gespräch.
Setzen Sie sich so lange mit diesen Fragen auseinander, bis Sie für sich selbst hinreichende Klarheit erlangt haben und das Gefühl haben, sich selbst zu kennen.
Wir hören uns!
Jetzt störe ich Sie erst einmal nicht weiter bei der Selbsterkenntnis.
Alles Gute und viel Spaß beim Philosophieren!
Wir hören uns bei „Frisch philosophiert“.
Ihr Magnus Frisch
Bildnachweis:
Louis von pexels.com (https://www.pexels.com/de-de/foto/frau-halt-spiegel-2460534/)
Lizenz: Free to use (https://www.pexels.com/de-de/lizenz/)
- Übersetzung von Peter Jaerisch aus: Xenophon, Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Jaerisch, mit Literaturhinweisen von Rainer Nickel. Düsseldorf/Zürich 2003 (Tusculum Studienausgaben). S. 199-201.)
- Vgl. DK 22 B 116.
Guten Tag Herr Frisch!
Ich fand es sehr hilfreich, in Dr. Georg Webers Lehrbuch der Weltgeschichte, Band 1 und 2, Leipzig, 1859, gefunden zu haben, dass der Spruch von Delphi: „Erkenne Dich selbst!“ vielleicht oder ganz sicher eigentlich heißt o. bedeutet: „Kenne Dich selbst!“.
Ist und klingt irgendwie einfacher (und ‚bringt‘ etwas mehr). Oder?
Viele Grüsse aus Rostock!
Andreas Schützler
PS: Falls, dann bitte auch an meine E-Mail-Adresse antworten. Danke.
Lieber Herr Schützler,
hier sprechen Sie mich nun als Klassischen Philologen und als Philosohen an.
Bei der Form γνῶθι handelt es sich um den Imperativ Aorist Singular des Verbs γιγνώσκω ‚erkennen‘ bzw. ‚kennen lernen‘. Der griechische Aorist Der Imperativ des Aorists verlangt im Griechischen die schnelle bzw. direkte Verwirklichung der geforderten Handlung, z. B. deren Eintritt oder auch deren Abschluss. Insofern kann man die Forderung γνῶθι σεαθτόν grammatisch entweder so auffassen, dass der aufgeforderte unverzüglich beginnen soll, sich selbst zu erkennen, oder so, dass er damit auch zeitnah zu einem Abschluss kommt. Das stützt natürlich auch Webers These. ABER: Mal ehrlich – rein philosophisch und psychologisch betrachtet – ist es kaum möglich, sich jemals – und schon gar nicht direkt nach der Aufforderung dazu – umfassend und abschließend zu „Kennen“, was ja des Resultat des ER-Kennens ist.
Ich bezweifle daher aus grammatischen und philosophischen Gründen, dass wir es uns so „einfach“ machen können, wie der Gelehrte des 19. Jahrhunderts es in seinem „Lehrbuch der Weltgeschichte“ darstellt. Ob diese Lesart Ihnen persönlich „mehr bringt“, müssen Sie natürlich für sich entscheiden.
Beste Grüße
Magnus Frisch
Hallo Herr Frisch,
vielen herzlichen Dank für Ihre Ausführungen.
Mein Altgriechisch beschränkt sich leider auf das Alphabet und ein mühsames Lesen.
Deshalb freue ich mich über Ihre Erklärungen.
Nichtsdestotrotz vermute ich immer noch vage die Weisheit des Lebens,
dass das „Kenne Dich selbst“ vielleicht etwas mit dem Kennen oder Vergegenwärtigen der eigenen Fehler oder Unzulänglichkeiten zu tun haben könnte.
Was ja zu einem gegebenen Zeitpunkt des Lebens aus Erfahrung heraus durchaus
möglich wäre (und auch recht rasch bzw. abschließend), allerdings natürlich wieder ein schwieriges Unterfangen – wer kennt sich schon selbst (eher sind da Andere dafür zuständig).
Aber diese Auffassung – unter der Berücksichtigung, dass die Griechen immer hübsche
Geschichten aus dem Leben, aber ohne Vergangenheits-, Zukunfts- oder tatsächlichen Moralanspruch verfasst haben – mag meiner subjektiven Phantasie entspringen.
Vielen Dank nochmals,
Eine gute Zeit!
Andreas Schützler
Die sieben Weisen. … Es waren praktische Männer, die als Staatsmänner, als Ratgeber des Volkes und Leiter der öffentlichen Angelegenheiten thätig gewirkt haben.
Gewöhnlich legt man ihnen folgende Denk- und Sittensprüche bei:
Kleobulos von Lindos: „Maß halten ist gut.“ 2. Periander von Korinth: „Jegliches vorbedacht!“ 3. Pittakos von Mitylene: „Wohl erwäge die Zeit!“ 4. Bias von Priene: „Mehrere machen es schlimm!“ 5. Thales von Milet: „Bürgschaft bringet Dir Leid!“
6. Theilon von Lakedämon „Kenne Dich selbst!“ 7. Solon von Athen: „Nimmer zu sehr!“
Soweit aus Georg Weber, 1859, (zur Griechischen Welt allein 154 S.)
Mein bescheidener Eindruck ist, das es sich hier um profanere Einsichten und Lebensregeln mit nicht allzu starkem Tiefgang handelt, aber natürlich kann das täuschen.
Viele Grüsse
Ihr Eindruck täuscht hier nicht. Allerdings lohnt es sich, die Fragmente der Vorsokratiker ausführlicher zu studieren, statt nur über die „zentralen“, ihnen zugeordneten Lebensregeln zu reflektieren. Die Lektüre von Epiktets Encheiridion, der Fragmente Epikurs, der Dialoge Platons, ausgewählter Werke des Aristoteles, vor allem aber späterer antiker Philosophen wie beispielsweise Ciceros, Senecas oder Marc Aurels sind bei weitem lohnenswerter.