Wann sollte man philosophieren und wann sollte man lieber nicht philosophieren? Wenn Ihr meinen Blog schon länger lest, wisst Ihr, dass ich immer die Vorteile des Philosophieren – auch im Alltag – betone. Man könnte denken, ich sei dafür, immer und jederzeit zu philosophieren.
Aber das stimmt nicht. Es gibt Zeiten und Situationen, in denen es besser ist, nicht zu philosophieren. In denen es sogar sehr gefährlich werden kann zu philosophieren. Meinen Schülerinnen und Schülern stelle ich in den ersten Wochen eines Schuljahres immer eine Frage, die ich heute auch Euch stelle:
Wann nicht philosophieren?
Wann ist es besser, nicht zu philosophieren?
Was meint Ihr? Wann, in welchen Situationen, zu welchen Anlässen, unter welchen Rahmenbedingungen, in welchen Lebensphasen ist es besser, nicht zu philosophieren?
Bevor Ihr weiterlest, nehmt Euch einfach kurz Zeit, über diese Frage gründlich nachzudenken!
Jegliches hat seine Zeit
Mit dem Philosophieren ist es nämlich wie mit allem anderen im Leben: Jegliches hat seine Zeit.
Wie so oft bei solchen Lebensweisheiten, finden wir diese Erkenntnis schon in der Bibel:
1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
2 Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
9 Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.
Prediger 3, 1-9 (Lutherbibel 2017)
Wenn Ihr dabei an den Song „Wenn ein Mensch lebt“ (1973) von den Puhdys denken müsst, hab Ihr völlig Recht. Die Puhdys haben dieses Bibelzitat in ihren Song eingebaut.
Es gibt Zeiten zum Philosophieren und Zeiten zum Handeln.
Wann soll man denn nun besser nicht philosophieren?
Aber zurück zu unserer Ausgangsfrage! Wann ist es Zeit, nicht zu philosophieren?
Was ist Euch dazu eingefallen? (Ich würde mich übrigens sehr freuen, wenn Ihr Eure Gedanken dazu in einen Kommentar schreibt.)
Meiner Erfahrung nach gibt es einerseits Zeiten und Situationen, in denen es entweder völlig unangebracht ist zu philosophieren oder wenigstens nicht ratsam, und andererseits gibt es Situationen, in denen man besser nicht für sich alleine philosophieren sollte.
Wann sollte man besser gar nicht philosophieren?
So sehr ich auch immer das Philosophieren auch im Alltag empfehle – manchmal ist es nicht nur unangemessen, sondern auch kontraproduktiv.
Unter Handlungsdruck
Wenn Ihr gerade dabei seid, eine wichtige Aufgabe auszuführen, die nicht aufgeschoben werden kann, ist es nicht ratsam darüber zu philosophieren, ob sie sinnvoll ist oder nicht. Diese Frage ist wichtig, aber entweder hätte sie VORHER geklärt werden müssen oder Ihr solltet Euch, nachdem Ihr damit fertig seid, Zeit für solche grundsätzlichen Fragen nehmen, um zu entscheiden, ob und unter welchen Umständen Ihr eine solche Aufgabe wieder übernehmen solltet.
Stellt Euch vor, Ihr sitzt an Eurer Abschlussarbeit und grübelt dann plötzlich darüber nach, ob Ihr das richtiges Studienfach gewählt habt und ob es sich überhaupt lohnt, die Arbeit fertigzustellen. Im Zweifelsfall führt dieses Grübeln dazu, dass Ihr die Arbeit nur halbherzig schreibt oder sogar „hinwerft“. Dann waren viele Semster des Studiums völlig umsonst. Wenn Ihr schon so weit gekommen seid, zieht es durch. DANACH könnt Ihr Euch gerne umorientieren.
In einer Situation, die volle Konzentration auf die Umgebung und auf die Entwicklung der Lage sowie schnelle, lagebezogene Entscheidungen und deren Umsetzung verlangt, ist es nicht ratsam zu philosophieren.
Im Straßenverkehr über den Sinn von Verkehrsregeln oder Regeln generell zu philosophieren, gefährdet im Zweifelsfall nicht nur Eure Gesundheit und Euer Leben, sondern auch das anderer Verkehrsteilnehmer. Bei einer Naturkatastrophe im Krisenstab erst lange über die Verantwortung des Menschen für die Umwelt und für spätere Generationen zu philosophieren, hilft keinem, sondern verzögert unnötig die Umsetzung der nötigen Maßnahmen.
Wenn – wie jetzt in Afghanistan – Menschen aus einem Kriegs- oder Krisengebiet evakuiert werden müssen, ist es nicht hilfreich, erst lange zu philosophieren, ob wir bewaffnete Streitkräfte haben sollten.
In konkreten Gefahrensituationen
Wenn Euch jemand eine Pistole an den Kopf hält oder ein Messer an die Kehle und Euch auffordert, ihm Euer Geld zu geben … Nun, wie sinnvoll wäre da wohl, darüber zu philosophieren, ob das, was wir als Realität wahrnehmen, nicht vielleicht nur ein Traum ist oder ob wir eine unsterbliche Seele haben und was nach dem Tod passiert?
Kann ich denn dann gar nicht philosophieren?
Heißt das nun, dass man in diesen Situationen jegliche philosophischen Fragen und Impulse ganz verdrängen sollte? Keinesfalls! Aber Ihr solltet sie nicht intensiv verfolgen. Schreibt Sie auf. Führt ein Notizbuch für solche Fragen oder nutzt eine App dafür. Wenn Ihr dann Ruhe habt und Muße zum Philosophieren, öffnet Euer Notizbuch, lest Euch die Fragen durch und philosophiert ausführlich darüber!
Wann sollte man lieber nicht alleine philosophieren?
Man kann zwar leicht alleine philosophieren. Gemeinsam mit anderen zu philosophieren, bietet aber viele Vorteile.
In einigen Situationen, aber auch für einige Menschen, ist es jedoch überhaupt nicht ratsam, alleine zu philosophieren.
In einer Lebenskrise
Wer in einer tiefen Lebenskrise steckt, sollte meiner Erfahrung nach nicht für sich alleine, im stillen Kämmerlein philosophieren. Häufig führt solch einsames Philosophieren in einer Lebenskrise zu einer Abwärtsspirale der Grübelei, der Trauer und Verzweiflung. Und das ist ja nun gerade das Gegenteil von dem, was wir in einer solches Situationen wollen.
Wer in einer Lebenskrise sich dann auch vielleicht noch alleine in düstere, schwer verständliche philosophische Werke vertieft, neigt leicht dazu, die Welt noch negativer zu sehen, als sie ohnehin schon ist. Viel besser ist es es solchen Situationen, sich einen Gesprächspartner oder eine Gesprächsgruppe oder einen Philosophischen Berater/Praktiker zum gemeinsamen Philosophieren zu suchen. Zudem sollten die Gesprächspartner sich nicht gerade selbst in einer Krise befinden.
Bei psychischen Erkrankungen
Dies gilt umso mehr für Menschen, die an psychischen Erkrankungen leiden. Damit Philosophie und Philosophieren für solche Menschen hilfreich sein kann, ist es wichtig, dass die „Mitphilosophierenden“ darauf achten, beim Philosophieren vor allem positive Aspekte und Orientierungsansätze zu betonen.
Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Philosophischen Berater
Ich habe hier nur ein paar Hinweise gegeben, wann man nicht oder nicht alleine philosophieren sollte. In konkreten Situationen ist es natürlich immer viel komplexer.
Wenn Ihr das Gefühl habt, dass Euch das Philosophieren irgendwie negativ beeinflusst, sprecht mit anderen darüber. Ich stehe Euch für Fragen natürlich auch zur Verfügung.
Hinterlasst gerne Eure Meinungen und Ideen als Kommentar!
Hi Magnus,
Wie heißt es doch in einem Sprichwort: „das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“.
Ist „Nachdenken“ aber sinngemäß das gleiche wie „Philosophieren“?
Tatsächlich ist manchmal ein zuviel des nachdenkens kontraproduktiv – ich glaube wir sollten hier Afghanistan ausklammern – da würde ich absichtliches „politisches philosophieren“ unterstellen. Für mich war klar, was passieren würde – eigentlich jedem, der die Geschichte Afghanistans kennt und auch das Vorgehen der Taliban gegen Andersgläubige. Hier hat man – weil man nicht helfen wollte (denn anders kann man dieses Versagen nicht erklären) – die Zeit ausgesessen. Danach kann man sich natürlich vor die Kamera stellen und überrascht tun (dass es im Bundestag im Vorfeld Anträge zur Hilfe gab, die aber von einigen Parteien abgeschmettert wurden, macht es nicht besser, sondern zeigt die ganze Verlogenheit und den Egoismus unserer Gesellschaft, bzw. derer Politik)
Dieses Verhalten kenne ich von meinem Ex-Arbeitgeber (einem Weltkonzern): jeder ist nur um sein Pöstchen bemüht und versucht unter dem Radar zu fliegen. Immer Ja-sagen, Entscheidungen verschleppen (natürlich eine oder 2 Alibi-Mails verschicken – die man dann als Nachweis des „man hat sich ja gekümmert, aber die anderen haben ja nicht reagiert“-Unschuldslammes vorweisen kann.
Doch das ist ein anderes Thema..
Kommen wir zum normalen Leben zurück: Ja, dieses überlegen – sollst Du oder sollst Du nicht, könnnte man oder könnte man nicht..
Wie oft stand ich in den hiesigen Discos, habe ein tolles Mädchen gesehen und war erst immer am überlegen: sprichst Du sie an, hmm, ich finde die ja schon toll, aber was sagst Du..
Und während man noch im Kopf seine tolle Anmache zurechtlegte – und überlegte sollst Du wirklich oder sollst Du nicht, kam eine andere Hohlbirne von der anderen Seite der Disco angewackelt, der schon vom Alkohol leichte Schlagseite (aber scheinbar auch mehr Selbstvertrauen) hatte, lallte maximal 2-3 Wörter und das tolle Objekt der Begierde lachte und verschwand mit ihm erst auf die Tanzfläche und später – naja, das konnte man sich denken..
Vielleicht will uns dass das Leben sagen: die ewigen Zauderer gehören zu den Verlierern.
Vielleicht sollte ich da mal länger drüber nachdenken…
CU
Peter
Moin Peter,
ich freue mich wie immer über Deinen ausführlichen Kommentar.
Nicht jedes Nachdenken ist Philosophieren. Und nicht jedes Nachdenken ist in den Situationen, die ich skizziert habe, falsch oder problematisch. Ganz im Gegenteil – das Denken sollten wir keineswegs abstellen – egal in welche Situation. („Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!“)
Aber ja, manchmal hat man schon verloren, wenn man nur zu lange nachdenkt.
Wer zu spät kommt, den bestraft bekanntermaßen das Leben.
Ciao
Magnus