Quidquid agis, prudenter agas et respice finem! – Achtsamkeit, Zielorientierung und Folgenabschätzung

Bogenschütze zielt auf Zielscheibe

Achtsamkeit, so heißt es gewöhnlich, sei ein Charakteristikum des Buddhismus und habe sich über die Übernahme buddhistischer Achtsamkeitstechniken seit den 1960er Jahren in der westlichen Welt verbreitet.

Auch das Konzept der Zielorientierung scheint bei uns verhältnismäßig jung zu sein – vor dreißig Jahren stand es noch nicht einmal im Duden. Das Wort klingt zunächst einmal nach Unternehmensberater- oder Coachjargon. Aber auch im Yoga ist das Konzept der Zielorientierung bzw. Zielorientierheit offenbar ein Thema.

Der Begriff Folgenkalkulation hat es bis heute nicht in den Duden geschafft, ebensowenig die Folgenabwägung oder Folgenabschätzung. Alle drei Begriffe finden sich aber sowohl in der modernen Ethik als auch in der Rechtswissenschaft.

Achtsamkeit, Zielorientierung und Folgenabschätzung in Antike und Mittelalter

Doch so modern sind diese Konzepte auch im westlichen Kulturkreis nicht. Sie finden sich in der Bibel, der griechischen Antike und auch im europäischen Mittelalter.

Bibel

So heißt es im apokryphen biblischen Buch Jesus Sirach (2. Jh. v. Chr.):

Denk an dein Ende bei allem, was du tust; dann wirst du nie etwas Unrechtes tun.

Sir 7, 40 [in anderer Zählung 7, 36] (hier zitiert nach der deutschen Übersetzung der Gute Nachricht Bibel)

Das klingt schon sehr nach Zielorientierung und Folgenabschätzung.

Fabel

Beim griechischen Fabeldichter Äsop (6. Jh. v. Chr.) lesen wir in der Fabel Vom Fuchs und dem Ziegenbock am Brunnen in der Moral am Ende:

Οὕτω καὶ τῶν ἀνθρώπων τοὺς φρονίμους δεῖ πρότερον τὰ τέλη τῶν πραγμάτων σκοπεῖν, εἶθ‘ οὕτως αὐτοῖς ἐγχειρεῖν.

So müssen auch unter den Menschen die Vernünftigen die Folgen ihres Handelns bedenken, bevor sie es in Angriff nehmen.

Äsop, Fabeln. Griechisch – deutsch, hrsg. v. Rainer Nickel, Berlin 2011 (Sammlung Tusculum), S. 20–21.

Hier haben wir schon die Verbindung von Vernunft und Folgenabschätzung.

stoische Philosophie

Der stoische Philosoph Epiktet (ca. 50–138 n. Chr.) widmet sich der Frage der Folgenabschätzung in seinem Handbüchlein der Moral sehr umfangreich (Encheiridion 29). Den Abschnitt zu diesem Thema leitet er mit folgender Aufforderung ein:

Ἑκάστου ἔργου σκόπει τὰ καθηγούμενα καὶ τὰ ἀκόλουθα αὐτοῦ καὶ οὕτως ἔρχου ἐπ‘ αὐτό. εἰ δὲ μή, τὴν μὲν πρώτην προθύμως ἥξεις ἅτε μηδὲν τῶν ἑξῆς ἐντεθυμημένος, ὕστερον δὲ ἀναφανέντων δυσχερῶν τινων αἰσχρῶς ἀποστήσηι.

Bei jeder Handlung berücksichtige die Voraussetzungen und die Folgen und auf diese Weise gehe dann ans Werk. Ansonsten wirst du es zu Anfang eifrig angehen, weil du nichts von dem bedacht hast, was daraus folgt, später aber, wenn sich irgendwelche Schwierigkeiten zeigen, wirst du dich abwenden.

Epiktet, Encheiridion 29, 1

Epiktet führt das an mehreren Beispielen aus: Athleten, Gladiatoren, Musikern, Schauspielern, Rednern und schließlich – Philosophen. Er empfiehlt, sich die Voraussetzungen und die Folgen des beabsichtigten Handeln oder Ziels genau vor Augen zu führen und zu prüfen, ob man diese wirklich will oder ertragen kann. Wenn man sich dann nach diesen Überlegungen bewusst und gezielt zu entwas entscheidet, soll man sich ganz darauf konzentrieren und nicht mal das eine, mal das andere ausprobieren. So empfiehlt Epiktet neben der Folgenabschätzung zugleich auch die Fokussierung.

Gesta Romanorum (Mittelalter)

In der spätmittelalterlichen Exemplasammlung Gesta Romanorum (14. Jh.) findet sich dann der bekannte und auch heute immer wieder zitierte Spruch:

Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!

Gesta Romanorum 103

Diese Weisheit ist extra im Versmaß des Hexameters formuliert, damit man sie sich besser merken kann, und geht vermutlich auf das Zitat aus Jesus Sirach zurück.1

Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!

Doch was genau bedeutet dieser Spruch eigentlich?

Was steckt da alles drin?

quidquid bedeutet ‚was auch immer‘ bzw. ‚alles was‘.

agere hat ein breites Bedeutungsspektrum von ‚tun‘ über ‚hervorbringen‘ und ‚ausführen‘ über ‚vorhaben‘ bzw. ‚nach etwas streben‘ bis hin zu ‚besprechen‘ oder ‚reden‘, um nur die wichtigisten allgemeinen Bedeutungen zu nennen.

Das Adverb prudenter bedeutet ‚wissentlich‘ oder ‚absichtlich‘, ‚kundig‘ oder ‚erfahren‘, aber auch ‚umsichtig‘, ‚klug‘, ‚verständig‘ und ‚einsichtsvoll‘.

respicere heißt hier soviel wie ‚an etwas denken‘, ‚für etwas sorgen‘ oder ‚etwas berücksichtigen‘ bzw. ‚etwas beachten‘, aber auch ‚etwas erwarten‘ oder ‚erhoffen‘.

Auch finis ist mehrdeutig: Es kann in diesem Zusammenhang einerseits ‚Ende‘, andererseits aber auch ‚Ziel‘ oder ‚Zweck‘ bedeuten.

Der Imperativ respice und der iussive Konjunktiv agas2 zeigen, dass es sich um eine Aufforderung, in diesem Falle ganz konkret um eine Handlungsmaxime handelt.

Für den Lateinisch Sprechenden klingen alle diese Bedeutungsebenen in dem Vers mit. Wir werden ihm also nicht gerecht, wenn wir ihn mit einer einzigen Wendung eindeutschen, wie z. B.: ‚Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende!‘ Wir müssen deshalb alle Bedeutungsebenen in unsere Deutung einbeziehen:

Und was bedeutet das nun?

Quidquid agis heißt verallgemeinernd ‚was auch immer du tust‘ oder ‚bei allem, was du planst‘. Das heißt, diese Maxime beansprucht Allgemeingültigkeit für alle Pläne, Erwägungen oder Handlungen eines Menschen – ohne Ausnahme.

Prudenter agas bedeutet einerseits soviel wie ‚du sollst es umsichtig/klug planen und ausführen‘, andererseits aber auch ‚du sollst es bewusst planen/ausführen‘. Man soll also bei allem, was man vorhat oder ausführt, aufmerksam sein und darüber nachdenken, nichts unbewusst oder unbedacht tun, sondern sich über das Wer, Was, Wann, Wie, Wozu oder Warum Gedanken machen – eben sich auf das, was man tut oder zu tun gedenkt, konzentrieren. Nichts anderes ist Achtsamkeit. Auch die Zielorientierung schwingt hier schon mit.

Respice finem umfasst zwei Aspekte: ‚habe das Ziel im Blick‘, die Zielorientierung also, und ‚achte auf das Ende‘, d. h. die Folgen einer Handlung bzw. wohin eine Handlung führt.

Die Maxime rät also zu Achtsamkeit, Zielorientierung und Folgenabwägung bei jedem Plan, jeder Entscheidung und jeder Handlung.

Maxime: "Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!"
Quidquid agis, prudenter agas et respice finem! Achtsamkeit, Zielorientierung, Folgenabschätzung

Achtsamkeit, Zielorientierung und Folgenabschätzung immer und überall?

Quidquid agis

Wirklich bei jeder Handlung?

Wenn man überlegt, wie viele Handlungen ein Mensch täglich bewusst oder unbewusst ausführt und wie viele Entscheidungen er trifft, erscheint die Umsetzung dieser Maxime im ersten Moment unrealistisch. Wir brauchen deshalb ein Kriterium, um festzulegen, auf welche Handlungen und Entscheidungen sie tatsächlich angewandt werden soll. Sollten wir dafür kein geeignetes Kriterium finden, müssen wir in einem nächsten Schritt prüfen, ob und wie die Maxime wirklich allgemeingültig umsetzbar ist.

Von vornherein ausnehmen sollten wir alle die Prozesse, die durch das Stammhirn kontrolliert werden und sozusagen „automatisch“ ablaufen, wie z. B. der Blutdruck, die Reflexe oder die Atmung, auch wenn man gerade die Atmung natürlich innerhalb gewisser Grenzen auch kontrollieren kann, wie es z. B. beim Yoga praktiziert wird.

Der überwiegende Teil unserer Entscheidungen und Handlungen läuft überdies unbewusst ab, gesteuert durch Routine, Gewohnheiten und Erfahrungen. Müssten wir tatsächlich jeden Handgriff und jeden Arbeitsschritt bewusst planen und ausführen, kämen wir wohl kaum zu etwas.

Ist das mit dem quidquid agis also vollkommener Unsinn? Nein! Denn die Maxime sagt keineswegs aus, dass wir bei jeder Entscheidung, jeder Planung und jeder Handlung jedes Mal neu alles prüfen und durchdenken sollen.

Prüfen – anpassen – Bewährtes beibehalten

Hat sich eine Vorgehensweise in einem bestimmten Kontext bewährt, wissen wir, dass sie zielführend ist, und kennen wir ihre Folgen, dann können wir diese Vorgehensweise in demselben und gegebenenfalls auch ähnlichen Kontexten anwenden. Merken wir dann, dass sie in einem ähnlichen Kontext nicht zum gewünschten Ergebnis führt oder negative Folgen nach sich zieht, müssen wir sie überdenken und für den neuen Kontext nach geeigneten Lösungen suchen. Wenn sich also eine Vorgehensweise nicht bewährt, müssen wir bewusst nach anderen Lösungsansätzen suchen, die zu unserem intendierten Ziel führen und keine oder möglichst wenige für uns oder unsere Mitmenschen unerwünschte Folgen haben.

Das bedeutet auch, dass wir einmal grundlegend unsere üblichen Handlungsweisen auf den Prüfstand stellen sollten – allerdings nicht gerade dann, wenn Entscheidungen in einer Situation schnell getroffen werden müssen, sondern vielmehr dann, wenn wir Ruhe haben und die Zielausrichtung und die Konsequenzen unserer gewohnten Handlungsweisen aus verschiedenen Perspektiven heraus durchdenken oder mit anderen besprechen können.3

Lagebeurteilung und Auswahl geeigneter Handlungsoptionen

Wenn wir jedoch in einer Situation, die eine Entscheidung erfordert, die Zeit dazu haben, sollten wir – wenigstens kurz und bewusst – überlegen, welche Handlungsoptionen uns zur Verfügung stehen, wie diese Optionen jeweils zu unseren Zielen passen und welche Konsequenzen daraus entstehen können. Wenn wir zwei oder drei Handlungsoptionen auf diese Weise analysiert haben, können wir diejenige auswählen, die am besten zu unseren Zielen passt und keine oder die wenigsten negativen Folgen nach sich zieht. Im Idealfall hat die ausgewählte Handlungsoptionen vielleicht sogar noch zusätzliche positive Aspekte für uns und andere.

Prudenter agas

Das prudenter agas bedeutet allerdings nicht nur, bei der Entscheidung bewusst und planvoll vorzugehen, sondern auch, bei der Umsetzung einer Entscheidung und der Ausführung einer Handlung bewusst, aufmerksam und achtsam zu sein. Nur so merke ich, ob alles so läuft, wie ich es will, oder ob sich die Situation plötzlich unvorhergesehen ändert und ich dementsprechend reagieren muss.

Daher sollten wir möglichst auch nur eine Handlung zur Zeit ausüben. Mehr kann man bewusst und konzentriert nicht leisten. Wenn ich also in einem gegebenen Zeitraum mehrere Handlungen ausführen muss, muss ich mir vorab oder währenddessen genau überlegen, wie ich diese Handlungen sinnvoll nacheinander ausführen oder aber wie ich zwangsweise entstehende Pausen bei einer Handlung sinnvoll mit anderen Handlungen ausfüllen kann, ohne dass eine oder mehrere dieser Handlungen darunter leiden.

Respice finem

Dass das respice finem mehrdeutig ist, haben wir schon gesehen. Es vereint zwei wichtige Aspekte miteinander: Zielorientierung und Folgenabschätzung.

Zielorientierung

Die Zielorientierung ist auf allen Handlungs- und Entscheidungsebenen wichtig, wenn wir uns nicht einfach so durch den Alltag und unser Leben treiben lassen wollen. Wer nicht weiß, wo er ist und wohin er will, für den ist jeder Weg gleich gut oder schlecht – er irrt so oder so herum. Das wissen nicht nur der stoische Philosoph Seneca oder der französische Philosoph Michel Montaigne, sondern auch die Grinsekatze in Lewis Carrolls Buch Alice im Wunderland.4

Nur wenn ich weiß, was ich will und wohin ich will, kann ich eine passende Handlungsoption auswählen und „richtige“ Entscheidungen treffen. Ob es nun um den Weg zu einem bestimmten Ort geht, um die Wahl eines Berufs oder Studiengangs, um das geeignete Vorgehen bei der Lösung eines Problems oder was auch immer. Ob es sich bei dem Ziel nun um Ihr Lebensziel handelt,5 ein angestrebtes Ausbildungsziel, ein Projektziel, ein Wochenziel oder ein Tagesziel.

Zielorientierung braucht Zielklarheit
Wo will ich hin? Was will ich haben? Was will ich erreichen? Wer will ich sein? Zielorientierung braucht Zielklarheit.

Folgenabschätzung

Die Folgenabschätzung sollten Sie schon in ihrem eigenen Interesse durchführen: Was passiert, wenn ich das tue? Welche „Nebenwirkungen“ kann meine Handlung haben? Will ich dieses Risiko eingehen? Und die Folgenabschätzung ist natürlich genauso wichtig in Bezug auf die Folgen Ihrer Handlungen für andere: Welche Auswirkungen hat mein Vorhaben oder meine Handlung für andere? Schade ich damit möglicherweise jemand anderem? Kann ich diese Folgen für andere wirklich wollen? Oder umgekehrt: Kann ich mit meiner Handlung nicht nur mir, sondern auch anderen nutzen?

Probieren Sie es aus!

Die Maxime Quidquid agis, prudenter agas et respice finem! eignet sich also wirklich für alle Lebenslagen und alle bewusst ablaufenden oder wenigsten bewusst planbaren und reflektierbaren Entscheidungen und Handlungen.

Halten Sie also öfter einmal inne! Entscheiden Sie bewusst und gezielt! Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie tun! Wägen Sie gezielt ab, ob Sie das, was aus Ihren Entscheidungen und Handlungen für Sie selbst und andere folgt, wirklich wollen!

  1. Vgl. Brigitte Weiske, Gesta Romanorum. Bd. 1: Untersuchungen zu Konzeption und Überlieferung, Tübingen 1992 (Fortuna vitrea; Bd. 3), S. 42.
  2. Die Deutung des Konjunktivs Präsens in der 2. Ps. Sg. als Optativ passt hier wohl weniger zum Imperativ des zweiten Prädikats.
  3. Ähnlich wie Descartes‘ Vorgehen in der ersten Meditation seiner Meditationes de Prima Philosophia.
  4. Vgl. Seneca, Epistulae morales in Lucilium 71, 3; Michel de Montaigne, Essais, 2. Buch, 1. Kapitel; Lewis Carroll, Alice in Wonderland, chapter 6 „Pig and Pepper“.
  5. Im Sinne von Napoleon Hills „definite chief aim“.

8 Kommentare

  1. Hi Magnus,
    ich denke, genau das unterscheidet die impulsiven Menschen von den Vorausschauenden – die Fähigkeit ein paar Züge weiter zu denken. Ein guter Schachspieler ist wahrscheinlich auch ein guter Stratege.
    Auch im Sun-Zhu (wahrscheinlich 500 v. Chr.) wird schon darauf hingewiesen sich seine (taktischen) Schritte im Vorfeld genau zu überlegen. Da kann es eben auch mal sinnvoll sein, einen Kampf zu vermeiden.
    Bei Hamlet heisst es in der Szene, als Polonius seinen Sohn Laertes nach Frankreich verabschiedet: „Hüte dich,
    In Händel zu geraten; bist du drin,
    Führ sie, daß sich dein Feind vor dir mag hüte..“ – hier ist wohl gemeint sein Ziel (in diesem Kontext geht es um Auseinandersetzungen – doch man kann das auch auf andere Bereiche des Lebens übertragen) nicht zaghaft, sondern mit Nachdruck zu wollen und auch nicht zu zaudern,
    Letztlich ist ja das ganze Leben irgendwie ein Kampf – auch wenn er nicht mehr mit Waffen ausgefochten wird, sondern durch Worte.
    CU
    P.

    1. Moin Peter,

      Du hast völlig recht. Sun Zhu und Shakepeares Hamlet passen auch gut in diese Reihe. Wer weiß, was er will und welche Konsequenzen er in Kauf zu nehmen bereit ist, muss auch gar nicht jedes Mal in eine umfangreiche Analyse eintreten, sondern kann ziemlich schnell überblicken, ob eine Handlung sinnvoll und zielführend ist oder eben nicht.

      Viele Grüße
      Magnus

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